FREIE PRESSE vom 10.04.2001 (Kulturseite)


Wilde Fleischeslust und Gaumenkitzel


Ein Augen- und Ohrenschmaus: Das Publikum labte sich am Musical-Thriller "Sweeney Todd der in Annaberg kredenzt wurde
von Daniel Gräfe


Hm, das hatte fürwahr die richtige Würze. "Sweeney Todd", Stephen Sondheims
musikalisches Zweieinhalb Stunden-Menü der deftigen Art tischte am Sonntagabend
das Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg auf.

Die vielen Köche verdarben hier keineswegs die leckeren Pasteten (dazu später),
sondern schoben sich gegenseitig die Leckerbissen zu. Kurz:
Schauspieler, Chor, Sinfonieorchester und Regieteam kitzelten (Geschmacks)
Nerven, Gaumen und Zwerchfell der begeisterten Zuschauer zugleich.

Benjamin Barker kehrt als Sweeney Todd im 19. Jahrhundert nach London zurück
und sinnt auf blutige Rache. Der gerissene Richter Turpin hat ihn unschuldig ins
Gefängnis gesteckt, seine Frau Lucy vergewaltigt und stellt nun seiner gerademal
volljährigen Tochter Johanna nach. Das soll Turpin, das sollen alle mit dem Leben
bezahlen und über die scharfe Klinge des "Teufelsbarbiers von Fleet Street"( so der Untertitel)
springen. Todd mietet sich bei der Pastetenbäckerin Lovett ein, die ihn- die Zeiten
sind schwer, das Fleisch ist teuer - nur allzugerne unterstützt.
Ritsch, ratsch werden die Liebhaber eines gepflegten Schnitts in feinen
Blätterteig gehüllt ( deshalb die Pasteten) und das Geschäft boomt wieder.

W e r n e r  B r e n n e r schuf für die preisgekrönte und politisch völlig unkorrekte
"Friss-oder-du-wirst-gefressen"-Geschichte- zwischen Musical und Oper eine grandiose Drehbühne.
Wie bei einem Baumhaus schlängeln sich die offenen Etagen um den Bäckerofen und führen
das Geschehen in die nächste makabre Runde.

Temporeich, pointiert und mit viel Witz präsentiert  M a n f r e d  D i e t r i c h s Regie,
Kannibalen und Liebe, stellt Schmachten und Schlachten nebeneinander.
im Friseursalon rutscht die Kundschaft durch den frisch rationalisierten Betrieb:
Tuch um, Schaum drauf, Kopf ab; Rutsche runter, Fleischwolf durch, Ofen rein
und wieder raus; gleich nebenan beturteln sich Johanna und Verehrer Anthony
(B e t t i n a  C o r t h y  und A n d r e a s  S c h o l z  als überzeugendes Liebespaar) aufs Innigste.

Das Stück ist ein irrwitziger Kreislauf; der sprichwörtliche Hund beißt
sich in dieser Kapitalismus - und Gesellschaftspersiflage am Ende selbst in den Schwanz.

Diese süß-sauren Kontraste und ironischen Wendungen spielt das Erzgebirgische
Sinfonieorchester Aue unter der Leitung von Friedemann Schulz genau und genüßlich  aus
und verleiht den balladenhaften Nummern einen schön schaurig, schrägen Schwung.

Herrlich schräg sind auch die Charaktere überzeichnet. Frau Lovett (M a r i e - L u i s e  B e e r )
pragmatisch bis ins Mark, säuselt ihren Liebes - Singsang für ihren Barbier und hält
als heiße Hexe mit ruppigem Mutterwitz das Geschäft zusammen. F o l k e  P a u l s e n
gibt einen stimmlich hervorragenden Sweeney, den seine Rachsucht immer weiter treibt.
Zusammen besingen und tanzen sie in Musical-Hall-Manier den Höhepunkt des Abend
und servieren sich in der Fantasie kommende kulinarische Köstlichkeiten:
zarte und wohlgenährte Priester zum Beispiel( leider nur Sonntags zu haben)
oder ein echter Adliger (solange er gewaschen ist)

Das Ensemble harmoniert, jeder ist für einen Mordsspaß gut.
Richter Turpin (L e a n d e r  M a r e l ) der sich in Leidenschaft für Johanna selbst kasteit.
Quacksalber Pirelli (A d r i a n  J o h n  C a v e ) als pompöser Wichtigtuer im Stil der italienischen Oper,
sein einfältiger aber inbrünstiger Gehilfe Tobias (M a r t i n  G e b h a r d t ),
Lucy (J u l i a n e  R o s c h e r - Z ü c k e r ), ein böser Geist und zu jedem Liebesdient bereit,
ein hervorragender Chor in den schaurig.-silbernen Kostümen von B e t t i n a  K i r s t e.

Alles in allem eine wunderbar schwarze  Inszenierung die den Konsumenten in unserer
von BSE geplagten zeit noch mehr das Fürchten lehren wird.
Wer kein Vegetarier ist und einen starken Magen hat, kann sich in der Pause
den kannibalischen Kick geben und eines der Pastetchen probieren.
Eine Empfehlung: Das Modell Komödiant war wirklich pikant