Nicht Oggersheim. Oggersheim ist zu groß

Eine gedruckte Ikone: Zwei Bände mit den späten Stück des

Dramatikers Peter Hacks

Von Gunther Nickel

Mit dem Monodrama "Ein Gespräch im Hause Stein über den

abwesenden Herrn von Goethe" wurde Peter Hacks weltberühmt.

Vermutlich handelt es sich um das erfolgreichste Stück eines

Autors deutscher Sprache nach dem Tode Brechts. Doch

inzwischen ist, aus Gründen sowohl ästhetischer als auch

politischer Natur, das Interesse der Bühnen an seinen Dramen

gering geworden.

Hacks bedient sich beim Schreiben von Stücken traditioneller, also

erprobter Mittel. Sein dramatisches Vorbild heißt Pocci, er nennt

aber auch Aristophanes, Shakespeare, Goethe und Schiller. Die

Aufgabe des Theaters sieht er darin, die in einem Drama

vorgeschriebenen Beziehungsabläufe durch leibhaftige Menschen

darzustellen. Doch der Theaterbesucher kann allenthalben erleben,

dass auf den Bühnen weitergehende Vorstellungen von den

künstlerischen Freiheiten der Regie in Szene gesetzt werden. Für

solche Experimentierlust ist Hacks nicht zu haben, er will seine

Stücke gleichsam als Partituren und nicht etwa als vage Vorgabe

für Improvisationen verstanden wissen. Daraus folgt, dass

Regisseure mit avantgardistischen Neigungen um seine Stücke

lieber einen Bogen machen.

Die Sache hat aber eben auch eine politische Seite, und sie fällt

nicht minder stark ins Gewicht. 1955 zog Hacks von München nach

Ost-Berlin, wo er sich bald vom Vorbild Brecht löste und

theoretisch wie praktisch eine sozialistische Klassik zu begründen

versuchte. Das geschah keineswegs immer im Einvernehmen mit

der offiziellen Kulturpolitik, die zeitweise ganz auf eine "Bewegung

schreibender Arbeiter" setzte, und war zum Teil sicherlich eine

Ausweichbewegung, denn zwei kritische Gegenwartsstücke von

Hacks wurden verboten. Doch auch nach der Wiedervereinigung

hielt er daran fest, dass ein liberaler Kapitalismus keine politische

Zukunft habe und die DDR zwar beileibe kein fehlerfreies, aber doch

das bessere Deutschland gewesen sei.

Über den gleichwohl nicht zu übersehenden Zuspruch zur Politik

Helmut Kohls bei den Wählern im Osten unmittelbar nach der

Wende spöttelte er in seinem Drama "Genovefa" - eines von zehn

Stücken, die Hacks nach 1989 geschrieben hat und die jetzt in

einer zweibändigen Buchausgabe erschienen sind. Es spielt in der

Pfalz zur Zeit der Herrschaft Karls des Kahlen und Karls des

Dicken und beginnt damit, dass die Titelheldin Ansprüche auf die

Einkünfte von drei Städten erhebt: "Ich dachte an Koblenz, Veldenz

und Oggersheim."

"Nicht Oggersheim", fleht darauf Truchseß Drago, "Oggersheim ist

zu groß." Es folgt ein turbulentes Spiel um Liebe und politische

Intrige, an dessen Ende Pfalzgraf Siegfried die fatalistische Einsicht

kundtut: "Man muss, wenn man auf Änderungen Wert legt,

überhaupt nichts machen. Was kommen soll, kommt von alleine."

Ist das Ausdruck der Hegelschen Gewissheit von der Vernunft in

der Geschichte, die sich zuweilen auch listiger Umwege bedient?

Oder doch eher ein mit resignativen Tönen untermischter Hohn über

den historischen Sieg des Politikers Kohl?

In jedem Fall, auch wenn inzwischen ein Regierungswechsel

erfolgte, ist es kein Einverständnis mit dem politischen Status quo.

Hacks Nachwendeproduktion zeigt das durchgängig. In seiner

Neufassung des Librettos zur Offenbach-Operette "Orpheus in der

Unterwelt" stellt etwa der Titelheld den Typus eines etwas

ungelenken, sozialistischen Parteifunktionärs vor, Eurydike das

Volk, das sich statt von ihm lieber von eitlem Tand verführen lässt,

den ihr der teuflische Pluto offeriert. Der hat am Ende aber gar

nichts außer leeren Versprechungen zu bieten: "Das ist die Hölle,

Madame; sie zeigen einem alles, und sie geben einem nichts." In

Bitterfeld, wo dieses Stück im September des vergangenen Jahres

von einer freien Theatertruppe inszeniert wurde, gab es dafür Beifall,

was immerhin zeigt, dass Hacks sein Publikum hat. Nur welches?

Und wer dürfte sich gegenwärtig für "Bojarenschlacht",

"Tatarenschlacht" und "Der falsche Zar" interessieren, drei

Schauspiele, die Wegmarken der politischen Geschichte

Russlands zum Gegenstand haben? Unverkennbar verfolgt Hacks

mit ihnen die Absicht, auf Analogien zur Gegenwart nach dem

Zerfall der Sowjetunion anzuspielen.

"Bojarenschlacht" spielt im achten Jahrhundert und behandelt den

Akt einer Staatsgründung. Fürst Rurik ist, anders als sein

anarchistischer Gegenspieler Wadim ,keineswegs der Ansicht, vom

Staat rühre alles Übel her: "Für den schlechtesten Zaren spricht ja,

dass er besser war als keiner." Hacks gesteht Rurik und nicht

Wadim einen großen Monolog zu, worin man ein Indiz dafür

erblicken darf, dass er selbst ein Freund einer cäsaristischen

Führerdemokratie ist.

Diese Annahme bestätigt "Tatarenschlacht", ein Stück, in dem

Hacks Probleme politischen Handelns entfaltet, denen sich schon

Lenin oder Carl Schmitt stellten. Es herrscht ein

Ausnahmezustand, wie ihn Schmitt in "Der Begriff des Politischen"

definiert, eine Lage, in der sich, wie die Regentin Nina meint, nur

eine Frage stellen sollte: "Wer beherrscht diesen Erdteil. Die

Russen oder die Tataren?" Doch ob die Alternativen tatsächlich so

lauten, ist nicht für alle Beteiligten ausgemacht. Denn es könnte

sein, dass Russland am Ende eines Krieges mehr Freiheiten

verliert als gewinnt. Was also ist zu tun? Und wer entscheidet

darüber?

Hacks künstlerische Meisterschaft besteht darin, bei der

Darstellung solcher staatspolitischen Fragen die Form das Dramas

nicht derart zu strapazieren, dass am Ende nur ein müde

dialogisierter Essay herausspringt. Was er schreibt, ist weit

entfernt von Agitproptheater, denn er bedient sich der Camouflage

als Mittel, das er gründlich schon zu den Zeiten erprobt hatte, als

er in der DDR auf andere Weise ungern Gehörtes nicht

aussprechen konnte. Zum Vergnügen, das sich durch das Lesen

zwischen den Zeilen bei der Lektüre einstellt, tragen darüber hinaus

manche komischen Einfälle bei, mit denen er seine Dialoge würzt.

Ein Beispiel aus dem 1606 spielenden Stück "Der falsche Zar":

",Was ist ein Flugblatt?'" - ,Eine ganz neue Sache, eine gedruckte

Ikone. Das Numinose im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit.' - ,Ich

meine, was bedeutet so etwas Gedrucktes' - ,Nichts. Aber das

weiß unser Jahrhundert noch nicht.'" Doch so witzig und

theatertauglich diese Stücke sein mögen - den Weg auf die Bühnen

werden sie wohl nur finden, wenn Wirklichkeit werden sollte, was

Hacks im Prolog seiner "Orpheus"-Operette prognostiziert: "Mein

Urwort drauf. Die Wende kann sich wenden. Was schlecht begann,

es muss ja nicht schlecht enden." Warten wirs ab.