Aus "HOFER ANZEIGER"  12.2.1993

Arthur-MiIIer-Drama im Theater Hof
Der Blick in den Abgrund
 Von Ralf Sziegoleit
 

HOF. - ,,Die meisten Menschen sind keine Menschen", glaubt der Hafenarbeiter Eddie Carbone zu wissen. Er aber ist einer: Daß er ein ,,guter Mann" sei, wird ihm, sichtlich zu Recht, nachgesagt. jedoch egreift, ,,wie etwas Fremdes", eine Leidenschaft von ihm Besitz; so muß er erfahren, daß er zu ,,den meisten" gehört.
Eddie Carbone liebt Catherine, seine Nichte. Die hat er großgezogen, viele Jahre lang, und nun, da sie siebzehn ist, kommt einer, der nimmt sie ihm weg. Rodolpho heißt der Rivale; ein Hausgenosse ist er- denn um einen Cousin von Eddis Frau handelt es sich; zusammen mit Bruder Marco ist er illegal ins Land eingereist. Um ihm Catherine zu entreißen, setzt Eddie seine Ehre aufs Spiel. Zum Verräter wird er, und er bezahlt mit dem Leben dafür.
Es gehe ihm darum, eine ,,besondere Atmosphäre des Erstaunens" über ein solches Schicksal zu schaffen, hat Autor Arthur Miller gesagt. ,,Ein Blick von der Brücke" (so der Titel seines in den fünfzigerjahren entstandenen Stücks), das ist: ein Blick in den schwindelnden Abgrund, den schon Büchner in ,,jedem Menschen" entdeckte.
Am Theater Hof ist das Miller-Drama jetzt in einer bemerkenswerten Aufführung zu sehen. Sehr leise, ja still ist sie- und dicht. Ein ,,Reißer" als Kammerspiel. Auf ,,Menschendarstellung" lege er Wert, hat Manfred Dietrich, der Berliner Gastregisseur, vorab wissen lassen. Nun zeigt er, daß er das selbstgesteckte Ziel eindrucksvoll zu erreichen vermag. Stets glaubhaft, in einer Art tragischer Notwendigkeit, vollzieht sich das Drama, in dem Sexus zum Schicksal wird; logisch und spannend, formal kühl, doch voller Intensität.
Südlich der Brooklyn Bridge, im ,,Schlund" von New York, ereignet sich die Geschichte. Günter Bahnmüller, der Bühnenbildner, hat sie mit einem Stück weiter (und leerer) Zivillsationslandschaft ,,illustriert", in der, wie eine Insel, Eddies Wohnstube liegt. Nichts Naturalistisches ist da zu sehen; aufs Zeichen- und Gleichnishafte setzt die Hofer Inszenierung, die sich überzeugend darum bemüht, als Kern des Stücks die menschliche Substanz freizulegen.
Um einen Gast aus München schart sich das insgesamt imponierende Hofer Ensemble: Dieter Kettenbach spielt den Eddie -ein Mann ohne Effekte, prägnant: ein Menschendarsteller, der sich Brüchen und Widersprüchen aussetzt und sie nahtlos zusammenzufügen  versteht. Ein kleiner Mann, dessen Größe im Scheitern liegt und darin, daß er zuläßt, als Mensch ganz erkennbar zu werden.
Beatrice, die Frau an Eddies Seite, ist Angelika Koppmann: eine Zukurzgekommene, die sich vernünftig, doch vergeblich - und mit voremanzipatorischem Aufbegehren zuweilen
gegen das Unheil stemmt. Nathalie Greiner gibt der zwischen Kind- und Frausein schwankenden Catherine erfrischend Profil; Arno Kempf ist Rodolpho, eine kraftvoll-naive Frohnatur, Dirk Schülte der eher grüblerische Marco, der -wie Eddie Carbone - zu den ,,Guten" gehört und doch schwere Schuld auf sich lädt.
Einmal hat der in Hof gespielte (und sinnvoll gekürzte) Text eine Zugabe zum Original Miilers zu bieten. Von einer die menschlichen Möglichkeiten begrenzenden Mauer berichtet da der ,,Ein-Mann-Chor" (den Wolfgang Pevestorf so spielt, als beobachte er das Ganze aus einer anderen Welt); von einer Mauer, in der manchmal ein Spalt sichtbar wird: Man ,,hofft und hat davor Angst". Das führt aufs schönste zu der ,,gewissen Beunruhigung"  hin (über das Schicksal Eddies und eines jeden), mit der das Stück den Betrachter entläßt. Das Premierenpublikum am Mittwoch abend bedachte die Aufführung mit langem Applaus.