Arthur-MiIIer-Drama im Theater Hof
Der Blick in den Abgrund
Von Ralf Sziegoleit
HOF. - ,,Die meisten Menschen sind keine Menschen", glaubt der
Hafenarbeiter Eddie Carbone zu wissen. Er aber ist einer: Daß er ein ,,guter
Mann" sei, wird ihm, sichtlich zu Recht, nachgesagt. jedoch egreift, ,,wie
etwas Fremdes", eine Leidenschaft von ihm Besitz; so muß er erfahren, daß
er zu ,,den meisten" gehört.
Eddie Carbone liebt Catherine, seine Nichte. Die hat er großgezogen, viele
Jahre lang, und nun, da sie siebzehn ist, kommt einer, der nimmt sie ihm weg.
Rodolpho heißt der Rivale; ein Hausgenosse ist er- denn um einen Cousin von
Eddis Frau handelt es sich; zusammen mit Bruder Marco ist er illegal ins Land
eingereist. Um ihm Catherine zu entreißen, setzt Eddie seine Ehre aufs Spiel.
Zum Verräter wird er, und er bezahlt mit dem Leben dafür.
Es gehe ihm darum, eine ,,besondere Atmosphäre des Erstaunens" über ein
solches Schicksal zu schaffen, hat Autor Arthur Miller gesagt. ,,Ein Blick von
der Brücke" (so der Titel seines in den fünfzigerjahren entstandenen
Stücks), das ist: ein Blick in den schwindelnden Abgrund, den schon Büchner in
,,jedem Menschen" entdeckte.
Am Theater Hof ist das Miller-Drama jetzt in einer bemerkenswerten Aufführung
zu sehen. Sehr leise, ja still ist sie- und dicht. Ein ,,Reißer" als
Kammerspiel. Auf ,,Menschendarstellung" lege er Wert, hat Manfred Dietrich,
der Berliner Gastregisseur, vorab wissen lassen. Nun zeigt er, daß er das
selbstgesteckte Ziel eindrucksvoll zu erreichen vermag. Stets glaubhaft, in
einer Art tragischer Notwendigkeit, vollzieht sich das Drama, in dem Sexus zum
Schicksal wird; logisch und spannend, formal kühl, doch voller Intensität.
Südlich der Brooklyn Bridge, im ,,Schlund" von New York, ereignet sich die
Geschichte. Günter Bahnmüller, der Bühnenbildner, hat sie mit einem Stück
weiter (und leerer) Zivillsationslandschaft ,,illustriert", in der, wie
eine Insel, Eddies Wohnstube liegt. Nichts Naturalistisches ist da zu sehen;
aufs Zeichen- und Gleichnishafte setzt die Hofer Inszenierung, die sich
überzeugend darum bemüht, als Kern des Stücks die menschliche Substanz
freizulegen.
Um einen Gast aus München schart sich das insgesamt imponierende Hofer
Ensemble: Dieter Kettenbach spielt den Eddie -ein Mann ohne Effekte, prägnant:
ein Menschendarsteller, der sich Brüchen und Widersprüchen aussetzt und sie
nahtlos zusammenzufügen versteht. Ein kleiner Mann, dessen Größe im
Scheitern liegt und darin, daß er zuläßt, als Mensch ganz erkennbar zu
werden.
Beatrice, die Frau an Eddies Seite, ist Angelika Koppmann: eine Zukurzgekommene,
die sich vernünftig, doch vergeblich - und mit voremanzipatorischem Aufbegehren
zuweilen
gegen das Unheil stemmt. Nathalie Greiner gibt der zwischen Kind- und Frausein
schwankenden Catherine erfrischend Profil; Arno Kempf ist Rodolpho, eine
kraftvoll-naive Frohnatur, Dirk Schülte der eher grüblerische Marco, der -wie
Eddie Carbone - zu den ,,Guten" gehört und doch schwere Schuld auf sich
lädt.
Einmal hat der in Hof gespielte (und sinnvoll gekürzte) Text eine Zugabe zum
Original Miilers zu bieten. Von einer die menschlichen Möglichkeiten
begrenzenden Mauer berichtet da der ,,Ein-Mann-Chor" (den Wolfgang
Pevestorf so spielt, als beobachte er das Ganze aus einer anderen Welt); von
einer Mauer, in der manchmal ein Spalt sichtbar wird: Man ,,hofft und hat davor
Angst". Das führt aufs schönste zu der ,,gewissen
Beunruhigung" hin (über das Schicksal Eddies und eines jeden), mit
der das Stück den Betrachter entläßt. Das Premierenpublikum am Mittwoch abend
bedachte die Aufführung mit langem Applaus.